Denn nichts auf der Welt wird auf mich warten.

Und dann stehst du auf einmal da. Die Welt hat sich um 180 Grad innerhalb von Sekunden gedreht und irgendwie dreht sie sich noch immer. Und du wirst gefragt: „Möchtest du ihn sehen?“, und in deinem Kopf ruft es: „Natürlich!“, und gleichzeitig: „Nein, Nein, Nein, Auf keinen Fall!“, aber noch während du versuchst zu verstehen, was die Stimmen in deinem Kopf dir raten, stehst du schon vor ihm. Vor deinem toten Opa. Der dir noch vor wenigen Stunden sanft über den Kopf fuhr und dir dabei etwas Unverständliches zu murmelte. Als ob er es gewusst hatte.

Aber es war gar nicht das Schlimmste ihn zu sehen. Denn er war es nicht, das war nicht mehr mein Opa. Es war nur noch eine Hülle, nichts darin. Der wirkliche Teil von ihm fehlte doch. Es waren eher all die Dinge, die ihn umgaben. Das Bild auf dem Regal über seinem Kopf, Arm in Arm mit meiner Oma. Meine Oma, die ihm mit den Worten: „Dir ist doch immer so kalt“, die Decke behutsam umlegte. Die rotgeweinten Augen meiner doch sonst immer so starken Tante, das tränenersticke: „Tschüss, Papa!“, als der Leichenwagen im Dunkeln verschwand.

Und dann Oma. Jahrelanges mental darauf Vorbereiten geht dann doch zu schnell vorbei. Du weiß was kommt, es ist unvermeidlich und doch ist es zu plötzlich, wenn dein Vater auf einmal vor dir steht und sagt: „Es geht los“.

Nun sind beide auf und davon, so wichtige einmalige Menschen, die mich mein Leben begleitet haben. Einem davon wollte ich dieses Projekt widmen, doch nun ist auch die nächste fort. Und nur noch eine Oma bleibt. Es ist doch unwichtig, wie wenig bereit ich mich für dieses Projekt fühle, wie sehr mich der Perfektionismus abhält die ersten richtigen Schritte zu tun. Eines Tages ist auch mein letzter Teil der Großeltern fort und nichts auf der Welt wird auf mich warten. Absolut nichts.


Diese Worte schrieb ich am 31. Mai 2019, ich speicherte sie ab und sah sie mir nie wieder an. Bis jetzt, dem 31. Dezember 2022. 43 Monate liegen dazwischen und nein, die Zeit wartet noch immer nicht auf mich. Nein, ich bin immer noch nicht bereit und mein Perfektionismus steht mir auch noch immer im Weg. Das Projekt jagt mir noch immer Ehrfurcht ein und fühlt sich so groß an, dass es mich gerne lähmt. Aber hier sind wir nun und ich mache endlich den ersten „richtigen“ Schritt: Ich erzähle davon – nicht nur meinen Freunden und Familie. 

Eine Geschichte hat immer einen Anfang

Beim Erzählen sollte man von vorn anfangen, doch wo ist der Anfang? Gab es ihn überhaupt? Also fangen wir wirklich ganz von vorn an: Meinem Vater zufolge waren zwar Landkarten meine erste große Liebe und das einzige Mittel das lauthals schreiende Kind auf langen Autofahrten zu besänftigen. Ich wage aber zu behaupten Märchenbücher müssen ganz knapp darauf gefolgt sein. Eine meiner lebhaftesten Erinnerungen ist, wie oft ich in einem wunderschön illustrierten Buch von Hans Christian Andersen blätterte und mich von den Bildern fesseln ließ. Ganz hoch im Kurs war dabei die kleine Seejungfrau, wo ich jedes einzelne Bild bis zur letzten Seeanemone analysierte. Aber natürlich hatten auch viele andere Märchen ihren festen Platz in meinem Herzen: Ich trauerte um das Pferd Falada, fürchtete mich vor dem garstigen Zwerg bei Schneeweißchen und Rosenrot und Aschenbrödel wurde sicherlich nicht nur zu Weihnachten geschaut. Als Prinzessinnen verkleidet Feld und Garten unsicher machen, gehörte natürlich auch mit zur Tagesordnung.

Ich schätze ich habe diese Märchenwelt nie ganz verlassen, von Anfang an schlichen sich Elemente und Motive aus dieser Welt in meine fotografische Arbeit und so hing mir schon früh der Gedanke im Kopf herum daraus irgendwann einmal etwas konkreteres zu machen. Der Schlüsselmoment passierte dann 2015, das Jahr, in dem mein Opa starb und ich zum ersten Mal in meinem Leben einem mir nahestehenden Menschen Lebewohl sagen musste.

Obwohl schon schwach, trug er mir eines Tages noch zwei Gedichte sicher und aus dem Stegreif vor und mir wurde zum ersten Mal richtig bewusst, wie sehr er dies liebte. Er war zwar nicht jemand, der mir in meiner Kindheit mit dem Buch auf dem Schoß Märchen vorlas, aber er liebte es Gedichte zu rezitieren, Lieder vorzutragen, Geschichten zu erzählen. Und das war der Moment in dem ich still und heimlich den Entschluss fasste meine bisher vagen Märchenfotoversuche in etwas konkreteres zu verwandeln und ihm ein kleines Buch zusammenzustellen, das ihm vielleicht ein wenig Freude in dieser schweren Zeit bringen konnte. Nun, ich hatte nicht einmal Zeit diesen Gedanken groß zu festigen, nicht mal einen Monat später verließ er uns und ich stand an der Kante seines Bettes, in dem er leblos lag. Dieselbe Stelle, an der ich mich Stunden zuvor von ihm verabschiedet hatte und versprach ihm, dass ich diese Idee trotzdem umsetzen würde, von nun an in Erinnerung an ihn.

Vier Jahre später folgte ihm meine Oma väterlicherseits und die obigen Zeilen entstanden in einem Moment, als ich mir das Ganze von der Seele schreiben musste. Treffend, die Zeit wartet nicht. Und trotz meiner Erkenntnis vor 3 Jahren, wagte ich dennoch keinen Anfang zu machen – denn ich habe doch keine Zeit dafür! Oh die liebe Zeit, ich hoffe wir werden noch eines Tages Freunde, doch ich hab so meine Schwierigkeiten mit ihr Schritt zu halten. Dieses Jahr aber jährte sich der Todestag meines Opas zum 7. Male. Der meiner Oma zum 3. Male. Und seht ihr es? Es sind typische Märchenzahlen! Die drei Federn, Die drei Brüder, Die drei Glückskinder, Die sieben Zwerge, Die sieben Raben, Die sieben Schwaben (Ja, das gibt es wirklich!).

Und ich kleine abergläubische Trulla liebe es schließlich Zeichen zu folgen. Ich musste dieses Jahr also anfangen, es gab keinen Weg dran vorbei. Allerdings sind andere Wege im Leben nun mal auch da, überlagern sich, kreuzen sich, schneiden vielleicht den ein oder anderen mal ab. Das sich nun neigende Jahr war immerhin wohl mein beruflich intensivstes Jahr seit Start der Selbstständigkeit. Als die Hochzeitssaison schließlich endete, war es auch schon tief im Herbst, der November kündigte sich an und mir blieb nicht mehr viel Zeit. Und noch dazu hatte ich mir fest in den Kopf gesetzt, dass das erste Foto dieses Projekts auf jeden Fall das des Gedichts sein muss, welches mein Opa mir so kurz vor seinem Tod vortrug. Was übrigens auch ein Grund meines langen Zögerns war: Wer hat schließlich mal eben ein im Feuerschein und Sturm untergehendes altes Segelschiff für mich? Und so gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht zum Ende des Jahres: Ich habe hier zwar noch kein Märchen/Sagen/Gedicht-Foto, aber ich habe meinen Nis Randers gefunden! Und sobald er aus dem schneebedeckten Lappland zurück ist, werden wir das Ganze endlich angehen!

So lang werde ich noch die ein oder anderen Märchen, Gedichte, Legenden und Sagen umdrehen, in der Hoffnung vielleicht doch noch irgendwann einen kleinen Pfad im Dschungel der Geschichten zu finden und aus meiner Prioritätenliste eine echte Prioritätenliste zu machen. Keine, die sich liest, als hätte ich einfach alles, was ich je in meinen 386 derartigen Bücher gelesen hätte, notiert. Keine Sorge, ich habe nochmal nachgezählt, es sind nur 37.

Aber da haben wir sie wieder! Die 3 und die 7! Die 43 Monate ergeben in der Quersumme übrigens auch 7. Wenn die Zeit schon nicht mit mir ist, dann ja vielleicht die Numerologie. Und somit kommt gut ins neue Jahr!

2022 vs. 2014. Wie man sieht spukte mir schon sehr früh der Gedanke eines Märchenprojekts im Kopf herum. Da mein Start in dieses Projekt anders, als geplant lief, beschloss ich dieses Bild zu rekreieren. Diesmal allerdings hinter Seidenpapier und nicht hinter Gardinen (Da IKEA Gardinen sogar schwedische Gardinen!).